Bag om Im Haus zum Seidenbaum
Wenn der Titel dieses Buches für einen Roman, der in unsern Tagen spielt, vielleicht etwas biedermeierisch anmutet, so mag er doch dadurch gerechtfertigt erscheinen, daß in den Menschen, von denen ich erzähle, noch heute ein Stück Überlieferung aus der »guten alten Zeit« steckt. Die Seidenweber vom Wiener »Schottenfeld« blicken auf eine Entwicklung von gut anderthalbhundert Jahren zurück, und wenn inzwischen auch längst größere oder ganzgroße Fabriksherren aus ihnen geworden sind, so hausen doch ihrer manche noch heute in den alten Häusern, von denen das Gewerbe einst seinen Ausgang genommen hat, und das eine oder andere von ihnen trägt noch heute, wenn schon nicht amtlich, so doch im Volksmund, seinen alten Hausnamen. Noch heute steht irgendwo in jener Vorstadtgegend, in einem hinter Hausmauern vergrabenen Gartenwinkel, jener stattlich gewachsene »Seidenbaum«, der dem Geschäftshaus der Firma Hocheder und der vorliegenden Erzählung den Namen gegeben hat, und schmückt sich alljährlich mit frischem Grün und zahlreichen kleinen, feinen weißen Blütensternen. Denn er ist kein lebloser, glattgescheuerter Webebaum, wie der Weber Schinnerl eine Zeitlang glaubte, sondern ein wirklicher und lebendiger Baum, ein weißer Maulbeerbaum nämlich, Morus alba, aus der den Seidenraupen vortrefflich mundenden Gattung der Moraceen. Er ist so alt, daß er die Zeit noch miterlebt hat, wo die kleinen Meister am Handwebstuhl sitzend eigenhändig die Weberlade regierten und der noch durchweg handwerksmäßige Gewerbebetrieb eine Angelegenheit der ganzen mithelfenden Familie war. Und hereinragend in dieses vielgepriesene und vielgelästerte Jahrhundert, das sich nicht einmal mehr mit der Großindustrie begnügen will, sondern sie zu den Riesenmaßen der Weltindustrie emporzusteigern berufen scheint, wird jenes in unsern Himmelsstrichen nicht eben häufig anzutreffende Gewächs noch heute frommsinnig geschont und behütet und von Kindern und kleinen Leuten als eine Kuriosität bestaunt. Denn für die großenteils von der Seidenindustrie und ihren Hilfsgewerben lebenden Bewohner der ehemals »Schottischen Freigründe«, auf denen vor lauter Häusern beinahe nichts Grünes mehr Platz hat, bleibt es immer ein merkwürdiges Ereignis, gelegentlich einmal das frisch gepflückte Blatt eines richtigen »Seidenbaumes« zwischen den Fingern zu halten, von welchem die Sage geht, daß es das Lieblingsfutter jenes Wurmes sei, dem vieltausend gewerbfleißige Menschen ihren Unterhalt und manchmal auch einen recht ansehnlichen Wohlstand danken.
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